Die kleinste Informationseinheit in einem Computer ist das Bit: ein oder aus, 1 oder 0. Aus der Verknüpfung und Verschaltung unzähliger Einsen und Nullen setzt sich heute die gesamte Rechenleistung der Menschheit zusammen. Quantencomputer haben ebenfalls eine solche Einheit, das Qubit. Auch dieses hat grundsätzlich zwei mögliche Zustände. Der wesentliche Unterschied: Quanteneffekte erlauben eine Überlagerung (engl. «Superposition») der beiden Zustände, sodass das Qubit nicht entweder 1 oder 0 ist, sondern sowohl als auch. Mit verschiedenen Mischungen von 0 und 1 kann das Qubit theoretisch unendlich viele Zustände annehmen.
Diese Vieldeutigkeit sollte Quantencomputern wahre «Zauberkräfte» verleihen. Zumindest in der Theorie können quantenbasierte Rechner so in Sekundenbruchteilen Berechnungen vornehmen, an denen heutige Supercomputer scheitern. Noch ist das Quantenrechnen aber nicht ausgewachsen. Eine der grossen Herausforderungen ist das Verknüpfen der Qubits miteinander – denn ein (Qu)Bit allein macht noch keinen Computer.
Eine Möglichkeit, die 0 und die 1 des Qubits zu realisieren, ist über die Ausrichtung des sogenannten Elektronenspins. Der Spin ist eine grundlegende quantenmechanische Eigenschaft von Elektronen und anderen Teilchen, eine Art Drehmoment, das, vereinfacht gesagt nach «oben» oder nach «unten» also «up» (1) oder «down» (0) zeigen kann. Sind zwei oder mehr Spins quantenmechanisch verknüpft, beeinflussen sie ihre Zustände gegenseitig: Ändert sich die Ausrichtung des einen, ändern diese sich auch für alle anderen. Eine gute Möglichkeit also, um Qubits miteinander «sprechen» zu lassen. Nur: Wie so vieles in der Quantenphysik, ist diese Sprache, also die Interaktion der Spins untereinander, enorm komplex. Obwohl man sie mathematisch beschreiben kann, lassen sich die einschlägigen Gleichungen selbst für relativ simple Verkettungen weniger Spins kaum noch exakt lösen. Nicht gerade die besten Voraussetzungen dafür, die Theorie in die Praxis zu übertragen ...
Ein Modell wird reell
Empa-Forschenden aus dem «nanotech@surfaces Laboratory» haben nun eine Methode entwickelt, wie man viele Spins kontrolliert miteinander «sprechen» lassen kann – und ihnen dabei auch noch «zuhören», also ihre Wechselwirkungen nachvollziehen kann. Gemeinsam mit Forschenden der «International Iberian Nanotechnology Laboratory» und der Technischen Universität Dresden konnten sie eine archetypische Verkettung von Elektronenspins exakt nachbauen und deren Eigenschaften detailliert vermessen. Ihre Ergebnisse wurden nun in der renommierten Fachzeitschrift «Nature Nanotechnology» veröffentlicht.
Die Theorie hinter der Verkettung ist allen Physikstudierenden geläufig: Man nehme eine lineare Kette aus Spins, in der jeder Spin mit einem seiner Nachbarn stark wechselwirkt und mit dem anderen schwach. Dieses sogenannte eindimensionale alternierende Heisenberg-Modell wurde vor fast 100 Jahren vom Physiker und späteren Nobelpreisträger Werner Heisenberg, einem der Begründer der Quantenmechanik, beschrieben. Obwohl es Materialien in der Natur gibt, die solche Spinketten enthalten, ist es bisher nicht gelungen, die Ketten gezielt in ein Material einzubauen. «Reelle Materialien sind immer komplexer als ein theoretisches Modell», erklärt Roman Fasel, Leiter des «nanotech@surfaces Laboratory» und Co-Autor der Studie.
Ein «Kelch» aus Kohlenstoff
Um ein solches künstliches Quantenmaterial oder «artificial quantum matter» herzustellen, griffen die Empa Forschenden deshalb auf winzige Stückchen des zweidimensionalen Kohlenstoff-Materials Graphen zurück. Die Form dieser Nanographen-Moleküle beeinflusst ihre physikalischen Eigenschaften, insbesondere auch ihren Spin – eine Art Nano-Quanten-Legostein, aus denen die Wissenschaftler längere Ketten «zusammenstecken» können.
Für ihr Heisenberg-Modell nutzten die Forschenden das sogenannte Clar's Goblet. Dieses besondere Nanographen-Molekül besteht aus elf Kohlenstoffringen, die in einer Sanduhr-ähnlichen Form angeordnet sind. Aufgrund dieser besonderen Form befindet sich an beiden Enden je ein ungepaartes Elektron – jedes mit einem dazugehörigen Spin. Obwohl schon 1972 vom Chemiker Erich Clar vorhergesagt, konnte das Clar's Goblet erst 2019 durch die Empa-Forschenden des «nanotech@surfaces»-Labors hergestellt werden.
Nun haben die Forschenden die Goblets auf einer Goldoberfläche zu Ketten verknüpft. Die zwei Spins innerhalb eines Moleküls sind dabei schwach miteinander verknüpft, die Spins von Molekül zu Molekül stark – eine perfekte Realisierung der alternierenden Heisenberg-Kette. Die Forschenden konnten die Länge der Ketten präzise manipulieren, einzelne Spins gezielt ein- und ausschalten sowie von einem Zustand in den anderen «drehen» und die komplexe Physik dieses neuartigen Quantenmaterials genauer untersuchen.
Aus der Theorie in die Praxis
So, wie die Synthese von Clar's Goblet die Herstellung von Heisenberg-Ketten ermöglicht hat, wird auch diese Studie ihrerseits neue Tore in der Quantenforschung öffnen, ist Fasel überzeugt. «Wir haben gezeigt, dass sich theoretische Modelle der Quantenphysik mit Nanographenen realisieren lassen und ihre Vorhersagen somit experimentell überprüfbar sind», sagt der Forscher. «Nanographene mit anderen Spin-Konfigurationen lassen sich zu anderen Arten von Ketten oder zu komplexeren Systemen verknüpfen.» Die Empa-Forschenden gehen gleich mit gutem Beispiel voran: In einer zweiten Studie, die kurz vor der Veröffentlichung steht, konnten sie eine andere Art der Heisenberg-Kette nachbauen, bei der alle Spins gleich stark miteinander verknüpft sind.
Um an der vordersten Front der angewandten Quantenphysik mitzuwirken, müssen Theoretiker und Praktiker aus verschiedenen Disziplinen zusammenspannen. Chemiker der Technischen Universität Dresden haben den Empa-Forschenden die Ausgangsmoleküle für ihre Synthese von Clar's Goblets zur Verfügung gestellt. Und Forschende der «International Iberian Nanotechnology Laboratory» in Portugal brachten ihre Expertise in der Theorie ins Projekt ein. Die Theorie, die es für solche Durchbrüche braucht, ist nicht (nur) diejenige, die man in Physikbüchern findet, betont Fasel, sondern eine anspruchsvolle Transferleistung zwischen dem quantenphysikalischen Modell und den experimentellen Messungen.