Es steht an der Schnittstelle zwischen Mathematik und dem Handwerk des Plattenlegers: das sogenannte Einstein-Problem. Mit dem Nobelpreisträger Albert Einstein hat diese mathematische Fragestellung indes nichts zu tun. Sie lautet: Kann man eine endlose Fläche mit einer einzigen Form (also einem «Einstein») nahtlos so kacheln, dass sich das entstehende Muster nie wiederholt? Gefunden hat eine solche «Proto-Kachel» erst 2022 der englische Hobby-Mathematiker David Smith.
Empa-Forscher Karl-Heinz Ernst ist weder Mathematiker noch Plattenleger. Als Chemiker forscht er an der Kristallisation von Molekülen an Metalloberflächen. Dass ihn das Einstein-Problem eines Tages beruflich beschäftigen würde, hätte er nicht erwartet – bis sein Doktorand Jan Voigt mit ungewöhnlichen Ergebnissen eines Experiments auf ihn zukam. Bei der Kristallisation eines bestimmten Moleküls auf einer Silberoberfläche bildeten sich anstelle der erwarteten regelmässigen Struktur unregelmässige Muster, die sich nie zu wiederholen schienen. Noch verwunderlicher: Bei jeder erneuten Durchführung des Experiments fielen die Muster anders aus.
Wie alle guten Forscher vermuteten Ernst und Voigt zunächst einen experimentellen Fehler. Doch schon bald wurde klar: Der merkwürdige Befund war echt. Nun galt es herauszufinden, warum sich die Moleküle so einzigartig verhielten. Die Antwort auf diese Frage veröffentlichten die Forschenden kürzlich in der Zeitschrift «Nature Communications».
Unvorhergesehene Effekte
Ernst und Voigt interessieren sich für die sogenannte Chiralität, die «Händigkeit», die viele organische Moleküle auszeichnet. Chirale Strukturen sind zwar chemisch identisch aufgebaut, lassen sich aber nicht durch Rotation ineinander überführen – in etwa so, wie unsere rechte und linke Hand. Essenziell ist diese Eigenschaft insbesondere in der Pharmazie. Über die Hälfte aller modernen Medikamente sind chiral. Da Biomoleküle wie Aminosäuren, Zucker und Proteine in unserem Körper alle die gleiche Händigkeit besitzen, müssen auch pharmazeutische Wirkstoffe chiral sein. Stimmt die Händigkeit des Medikaments nicht, so ist es bestenfalls wirkungslos, schlimmstenfalls sogar schädlich.
Die Kontrolle der Händigkeit bei der Synthese organischer Moleküle ist daher von enormem Interesse für die Chemie. Eine der Möglichkeiten ist die Kristallisation von chiralen Molekülen. Sie ist günstig, effektiv und weit verbreitet – und trotzdem noch nicht vollständig verstanden. Dieses Verständnis wollten die Empa-Forscher mit ihrem Experiment ursprünglich fördern. Dafür nahmen sie ein ganz besonderes Molekül, eines, das seine Händigkeit bei Raumtemperatur leicht wechselt – etwas, was die meisten chiralen Moleküle praktisch nie tun.
«Wir haben erwartet, dass sich die Moleküle nach ihrer Händigkeit im Kristall anordnen», erklärt Karl-Heinz Ernst, «also entweder abwechselnd oder in Gruppen mit derselben Händigkeit.» Stattdessen fügten sich die Moleküle scheinbar willkürlich zu unterschiedlich grossen Dreiecken zusammen, die auf der Oberfläche ihrerseits unregelmässige Spiralen bildeten – die nicht-wiederholende oder aperiodische Struktur, die die Forschenden zunächst für einen Fehler hielten.
Von Puzzleteilchen zur Physik
Nach langem Tüfteln gelangt es Voigt und Ernst schliesslich, die molekularen Muster zu entschlüsseln – nicht nur durch Physik und Mathematik, sondern auch durch das Ausprobieren mit Puzzleteilen am Computer oder gar zuhause am Küchentisch. Komplett willkürlich ist die Anordnung der Moleküle nämlich nicht. Sie bilden Dreiecke, die zwischen zwei und 15 Moleküle pro Seite messen. Bei jeder Versuchsdurchführung dominierte jeweils eine Dreiecksgrösse. Ausserdem waren Dreiecke eine Grösse grösser und eine Grösse kleiner vertreten, aber keine weiteren.
«Unter unseren experimentellen Bedingungen ‹wollen› die Moleküle die Silberoberfläche so dicht wie möglich bedecken, weil das energetisch am günstigsten ist», erklärt Ernst. «Aufgrund der Chiralität passen die Dreiecke, die sie bilden, an den Rändern aber nicht exakt zusammen und müssen sich leicht versetzt anordnen.» Damit die Fläche trotzdem so effizient wie möglich ausgefüllt wird, braucht es die kleineren und grösseren Dreiecke. Bei dieser Anordnung entstehen ausserdem an manchen Stellen Defekte – kleine Unstimmigkeiten oder Löcher, die zum Zentrum einer Spirale werden können.
Die Entropie entscheidet
«Defekte sind eigentlich energetisch ungünstig», so Ernst weiter. «Sie ermöglichen in diesem Fall aber eine dichtere Anordnung der Dreiecke, was die ‹verlorene› Energie wieder kompensiert.» Dieses Gleichgewicht erklärt auch, warum die Forschenden nie zweimal dasselbe Muster vorgefunden haben: Wenn alle Muster von ihrem Energiezustand her gleich sind, entscheidet die Entropie.
Das Rätsel um den «molekularen Einstein» ist gelöst – aber was bringt uns diese Erkenntnis? «Oberflächen mit Defekten auf atomarer oder molekularer Ebene können besondere Eigenschaften aufweisen», erklärt Ernst. «Gerade für eine aperiodische Oberfläche wie unsere wurde vorhergesagt, dass sich die Elektronen darin anders verhalten und daraus eine neue Art von Physik entstehen könnte.» Um dies zu untersuchen, müsste man allerdings das aperiodische Molekül unter dem Einfluss von Magnetfeldern auf einer anderen Oberfläche untersuchen. Das überlässt Karl-Heinz Ernst, der inzwischen im Ruhestand ist, nun anderen. «Ich habe ein bisschen zu viel Respekt vor der Physik», schmunzelt der Chemiker.