„Erzählungen erfüllen für Migrant:innen eine Vielzahl an Funktionen“, so Christina Schachtner. Sie hat Interviews mit 32 Migrant:innen aus Afrika, arabischen Ländern und Europa geführt, die seit durchschnittlich 15 Jahren in Deutschland und Österreich leben. Mit einer Kombination aus narrativer Analyse, Metaphernanalyse und Grounded Theory hat sie untersucht, wie Migrationserfahrungen erzählt werden und welche Bedeutung digitale Medien für diese Erzählprozesse haben.
Die Studie zeigt unter anderem, dass Migrant:innen durch ihre Erzählungen ihre Erfahrungen reflektieren und sich selbst in einem neuen sozialen Kontext verorten. Besonders häufig verwenden sie Metaphern wie „Entwicklung“, „Bewegung“ oder „Balance“, um ihre Lebenssituation zu beschreiben. Beispielsweise erzählte eine Teilnehmerin aus Marokko, dass sie sich wie ein „freier Engel“ fühle, der sich aus alten Zwängen befreit habe.
Als kommunikative Drehscheiben fungieren digitale Medien wie WhatsApp, soziale Netzwerke oder Videoanrufe. Sie ermöglichen es, visuelle und sprachliche Erzählungen mit Familie und Freund:innen in der Heimat zu teilen, soziale Bindungen aufrechtzuerhalten und sich über kulturelle Veränderungen auszutauschen. In vielen Fällen dienen Bilder als Mittel der Selbstverortung: So berichtete eine griechische Migrantin, dass sie regelmäßig Fotos aus ihrer neuen Heimat an ihre Familie schicke, um zu zeigen, „was sie sieht und wo sie ist“. Kurze, fragmentierte Erzählungen, so genannte Small Stories, prägen die Kommunikation über diese digitalen Medien. Die Mikroerzählungen ermöglichen es, alltägliche Erlebnisse schnell und interaktiv mit anderen zu teilen. Sie fördern nicht nur die soziale Integration, sondern bieten auch Raum für gegenseitige Anerkennung.
„Viele Migrantinnen und Migranten leben in plurilokalen sozialen Räumen, in denen sie sich sowohl mit dem Aufnahmeland als auch mit ihrem Herkunftsland verbunden fühlen“, berichtet Christina Schachtner. Die Narrative dienen dabei häufig als Brücken zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Darüber hinaus dienen die Erzählungen immer wieder als Mittel der Resilienz und emotionalen Bewältigung, wenn es darum geht, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten. Christina Schachtner führt dazu aus: „Insbesondere humorvolle Erzählungen können eine Strategie sein und dabei helfen, emotionale Belastungen zu relativieren und eine neue Form der Normalität zu schaffen.“
„Migrant:innen erhalten oft wenig Anerkennung und Resonanz. Das hat damit zu tun, dass ihre sozialen Netze oft weit entfernt und daher physische Begegnungen rar oder gar nicht möglich sind. Häufig sind sie darüber hinaus von Diskriminierungen im Migrationsland bedroht. Sie werden mit ihrem Bedürfnis nach Anerkennung oft ignoriert und stattdessen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Online- und Offline-Storytelling als Medium der Selbstkonstitution, wie diese Studie gezeigt hat, ist für sie daher essentiell“, fasst Christina Schachtner zusammen.