- Schnee messen: Am SLF-Versuchsfeld Weissfluhjoch sammelt Klimaforscher Christoph Marty grundlegende Daten zu Aufbau, Schneehöhe und Wasserwert der Schneedecke.
- Wasserfragen im Klimawandel: Die Daten fliessen in Modelle ein, die zeigen, wie sich Schnee und Verdunstung verändern – mit Folgen für Stromproduktion, Landwirtschaft und Wasserversorgung.
- Einzigartige Messreihe seit 1936: Das Versuchsfeld liefert die weltweit längste tägliche Schneemessung in grosser Höhe – eine unverzichtbare Basis für Schnee-, Wasser- und Klimaforschung.
«Die Wettervorhersage war fünfzig zu fünfzig, Sonne oder bedeckt, immerhin haben wir Pulverschnee», sagt Christoph Marty und macht sich auf den Weg die Piste hinab. Es ist kurz vor halb neun an diesem Donnerstagmorgen im März, es schneit und die Sichtweite beträgt wenige Meter. Marty ist auf dem Weg zum Versuchsfeld Weissfluhjoch des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF, rund 150 Höhenmeter unterhalb der Bergstation der Standseilbahn Parsenn.
Marty ist Schneeklimatologe am SLF und Experte für die langfristige Entwicklung von Schneehöhen. Am Versuchsfeld erhebt er regelmässig wichtige Daten für seine Arbeit – und für die seiner Kollegen.
Heute begleiten ihn die Masterstudentin Isabella Anglin und die Praktikantin Leah Gaillard Festa. Zu dritte beginnen sie mit ihrer Arbeit – und das bedeutet, erstmal schaufeln. Um die Daten zu sammeln, benötigt Marty ein mehrere Quadratmeter grosses Loch, das bis zum Boden reicht. «Wir haben Glück, heute beträgt die Schneehöhe nur 127 Zentimeter, es könnten auch drei Meter sein», sagt der Forscher. Mehrmals pro Winter ist er hier oben und gräbt. Wie viele Tonnen Schnee er im Laufe seiner Karriere bereits bewegt hat, weiss er nicht. Aber es sind viele.
Nebenher misst er die Temperatur des Schnees. Minus 2.6 Grad Celsius zeigt das Thermometer. «Das bedeutet, dass die Schneedecke noch nicht nass ist», erklärt der Wissenschafter. Dann packt er die Rammsonde aus, eine breite Metallstange, an deren Ende ein Gewicht an einer weiteren, dünneren Stange montiert ist. Ähnlich wie bei manchen Eierköpfern lässt er dieses immer wieder auf das obere Ende der Stange fallen. So ermittelt er, wie hart einzelne Schneeschichten sind. «Zehn mal fünf, 52», ruft er Gaillard Festa zu, die protokolliert. Dann «Vier mal fünf, 75.»
Danach treibt Marty einen Metallzylinder von oben in die Schneedecke, bis diese mit einer Schneesäule gefüllt ist, und hängt sie an eine Federwaage. So ermittelt er die Dichte der Schneedecke. In Kombination mit der Schneehöhe kann er daraus das den Wasserwert der Schneedecke bestimmen, eine weitere, wichtige Kennzahl.
«Das ist so pfiffig, wie hier gemessen wird», sagt Gaillard Festa. Sie ist heute das erste Mal dabei. Künftig wird sie auch selber Werte aufnehmen. «Wir haben ja auch rund 90 Jahre Zeit gehabt, unsere Verfahren zu entwickeln und zu verfeinern», antwortet Marty. In der Klimatologie sind solche langen Zeitreihen wertvoll, bei denen Forschende immer die gleichen Methoden verwenden, auch wenn diese altbekannt sind. Denn das erleichtert die Vergleichbarkeit der Daten.
Bereits 1936 hat die Forschungsstation Weissfluhjoch der Schweizerischen Schnee- und Lawinenforschungskommission, der Vorläufer des SLF, das Versuchsfeld auf 2536 Meter ü.M. eingerichtet. Ursprünglich für die Forschung zu Schnee und Lawinen. Später nutzte auch der Lawinenwarndienst die Daten. Heute liefern sie zudem wichtige Informationen zu den Folgen des Klimawandels.
Seit den Anfängen des Versuchsfelds haben Forschende hier unzählige Experimente zur Schneemechanik, Schneemetamorphose, Schneecharakterisierung und Messmethodik durchgeführt. Liegt Schnee, erheben sie seither täglich Daten. Es ist weltweit die längste kontinuierliche Messreihe in täglicher Auflösung auf dieser Höhenzone. Die Doktorandinnen und Doktoranden am SLF wechseln sich im Schichtdienst ab. Jeden Morgen fährt eine Person hier hoch und nimmt grundlegende Daten auf.
Oft ist es in der Wissenschaft wichtig, wie hier auf althergebrachte Verfahren zu setzen, auch wenn sie aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen. Denn um Hightech-Methoden und -Geräte zu entwickeln, braucht es verlässliche Datensätze. Die mühevolle Handarbeit liefert eine wichtig Referenz für moderne Messapparate. Tatsächlich hängen an zahlreichen Masten diverse Apparate wie Laserscanner, Ultraschallsensoren, Radar und vieles mehr. Auch Unternehmen aus der freien Wirtschaft nutzen die Expertise des SLF. Sie installieren immer wieder neue Sensoren auf dem Versuchsfeld und vergleichen die Daten ihrer Instrumente mit den Zahlen des SLF.
Langfristige, mit den immer gleichen Methoden erhobene Datenreihen sind zudem für die Forschung unentbehrlich, gerade in Zeiten des Klimawandels. Denn die Erfahrungen aus der Vergangenheit ermöglichen Menschen wie Christoph Marty Prognosen für die Zukunft. «Wenn wir einen Trend zu weniger Schnee in Folge des Klimawandels feststellen, bedeutet das auch, dass wir in einem trockenen Sommer in der Schweiz weniger Wasser zur Verfügung haben», nennt er ein Beispiel. Das betrifft dann Energieversorger und Landwirtschaft genauso wie Hobbyanglerinnen und Gartenbesitzer. Und die Hightech-Apparate des Instituts ergänzen die handgemachten Datenreihen um wichtige Informationen, die zu noch besseren Ergebnissen führen.
Masterstudentin Anglin nimmt derweil zahlreiche Schneeproben und steckt sie in Plastikröhrchen. Diese wird sie an die ETH Zürich schicken. Dort kommen die Proben in ein Massenspektrometer. Anglin untersucht das Verhältnis von Wassermolekülen mit unterschiedlich schweren Sauerstoff- und Wasserstoffatomen, den Isotopen. Daraus will sie bestimmen, wieviel Schnee verdunstet, damit die Modelle verbessert werden können. «Je nach Wetterbedingen kann die Verdunstung einen wichtigen Anteil des Wasserhaushalts ausmachen – wir wollen das Quantifizieren », erläutert die Chemieingenieurin.
Mittlerweile ist die Sonne rausgekommen. Marty schnallt seine Skier an und macht sich auf den Weg ins Tal, zurück an den Schreibtisch. Dort wird er die gemessenen Daten aufbereiten. Nicht nur für seine Forschung. Auch andere Gruppen am SLF wie der operationelle schneehydrologische Dienst (OSHD) oder das Bundesamt für Umwelt profitieren von solchen Messungen, weil damit die Modelle für Abflussprognosen verbessert werden können.
Anglin und Gaillard bleiben auf dem Versuchsfeld. Sie nehmen weitere Proben und müssen danach noch das Loch zuschaufeln.
Was ist ... das Schneewasseräquivalent (SWE)?
Eine Schneedecke besteht aus zahlreichen Schichten mehr oder weniger stark zusammengepressten (dichten) Schnees. Das Schneewasseräquivalent gibt an, wie hoch eine Wasserschicht nach dem Schmelzen der Schneedecke wäre, angegeben in Millimeter. Jeder Millimeter entspricht einem Liter Wasser pro Quadratmeter Schneedecke. Ein Zentimeter Neuschnee mit einer typischen Dichte von hundert Kilogramm pro Kubikmeter ergibt einen Millimeter Wasser. Ein Beispiel: Mitte April 2024 betrug die mittlere Dichte der Schneedecke auf dem Versuchsfeld Weissfluhjoch 416 Kilogramm pro Kubikmeter, was bei einer Schneehöhe von 2,7 Metern einem Wasserwert von rund 1100 Millimetern beziehungsweise 1100 Liter Wasser pro Quadratmeter entspricht.
Dieser Artikel erschien zuerst am 29. April 2025 in einer gekürzten Version in der Davoser Zeitung.