Was weiß (und kann) der Geier? GAIA verbindet natürliche und künstliche Intelligenz für Wildtierforschung und Artenschutz
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Was weiß (und kann) der Geier? GAIA verbindet natürliche und künstliche Intelligenz für Wildtierforschung und Artenschutz


Um das Verhalten von Tieren und den Zustand der Umwelt aus der Ferne zu erfassen und zu bewerten, entwickelte die GAIA-Initiative eine künstliche Intelligenz (KI), die verschiedene Verhaltensweisen von Geiern anhand von Tiersender-Daten in Echtzeit automatisch und korrekt identifiziert. Da Geier als Aasfresser immer auf der Suche nach Kadavern sind, können die Forschenden mithilfe besenderter Tiere und eines weiteren KI-Algorithmus jetzt Tierkadaver in weitläufigen Landschaften lokalisieren. Die im „Journal of Applied Ecology“ beschriebenen Algorithmen sind ein wichtiger Baustein eines Frühwarnsystems, mit dem kritische Veränderungen oder Ereignisse in der Umwelt wie Dürren, Krankheitsausbrüche oder illegale Tötungen von Wildtieren schnell und zuverlässig erkannt werden können.

Die GAIA-Initiative ist ein Zusammenschluss aus Forschungsinstituten, Naturschutzorganisationen und Unternehmen mit dem Ziel, ein High-Tech-Frühwarnsystem für ökologische Veränderungen und kritische Ereignisse in der Umwelt zu schaffen. Die neuen KI-Algorithmen wurden am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS und dem Tierpark Berlin entwickelt.

Der Tod von Tieren ist ein wichtiger Vorgang in Ökosystemen – unabhängig davon, ob er einen Regelfall darstellt wie bei der erfolgreichen Jagd eines Raubtieres oder einen Ausnahmefall, verursacht durch den Ausbruch einer Wildtierkrankheit, den Eintrag von Umweltgiften in die Landschaft oder die illegale Tötung durch Menschenhand. Für die Erforschung und den Schutz von Tiergemeinschaften und Ökosystemen ist es daher von großer Bedeutung, die Regel- und Ausnahmefälle des Sterbens systematisch zu erfassen und zu analysieren. Die GAIA-Initiative nutzt dafür eine Kombination aus den natürlichen Fähigkeiten von Weißrückengeiern (Gyps africanus) und hoch-entwickelten Biologging-Technologien und Künstlicher Intelligenz (KI). „Diese Synergie aus drei Intelligenzen – tierischer, menschlicher und künstlicher – ist der Kern unseres neuen -Ansatzes, mit dem wir das großartige Wissen der Tiere über ihre Ökosysteme nutzen wollen“, sagt Dr. Jörg Melzheimer, GAIA-Projektleiter und Wissenschaftler am Leibniz-IZW.

Geier sind evolutionär perfekt darauf angepasst, zuverlässig und schnell Kadaver aufzuspüren. Sie verfügen über einen herausragenden Sehsinn und eine ausgefeilte Kommunikation, sodass sie im Verbund vieler Individuen sehr große Landstriche „überwachen“ können. Geier erfüllen damit eine wichtige ökologische Funktion, weil sie Landschaften von Aas reinigen und die Ausbreitung von Wildtierkrankheiten eindämmen. „Für uns als Forschende für den Artenschutz sind das Wissen und die Fähigkeiten der Geier als Wächtertiere relevant, um problematische Ausnahmefälle des Tiersterbens schnell erkennen und zügig angemessene Maßnahmen initiieren zu können“, sagt Dr. Ortwin Aschenborn, gemeinsam mit Melzheimer GAIA-Projektleiter im Leibniz-IZW. „Um das Wissen der Geier für uns nutzbar zu machen, brauchen wir eine Schnittstelle – und diese Schnittstelle bildet bei GAIA die Kombination aus Tiersendern und künstlicher Intelligenz.“

Die Tiersender, mit denen GAIA unter anderem Weißrückengeier in Namibia ausstattete, zeichnen mindestens zwei Gruppen von Daten auf. Der GPS-Sensor liefert zu einem bestimmten Zeitpunkt die genaue Position eines Tieres, der sogenannte ACC-Sensor (ACC steht für acceleration, englisch für Beschleunigung) erfasst detaillierte Bewegungsprofile des Senders – und damit des Tieres – entlang der drei räumlichen Dimensionen zum selben Zeitpunkt. Beides nutzt ein am Leibniz-IZW entwickelter Algorithmus, der Modelle des Maschinenlernens verwendet, die zu den Modellen der künstlichen Intelligenz (KI) gehören. „Jedes Verhalten ist mit spezifischen Beschleunigungsmustern verknüpft und erzeugt deshalb bestimmte Signaturen in den ACC-Daten der Sensoren“, erklärt Wildtierbiologe und KI-Spezialist Wanja Rast vom Leibniz-IZW. „Um diese Signaturen erkennen und zuverlässig bestimmten Verhalten zuweisen zu können, haben wir eine KI mit Hilfe von Referenzdaten trainiert. Diese Referenzdaten stammen von zwei Weißrückengeiern, die wir im Tierpark Berlin mit Sendern ausgestattet hatten, sowie von 27 wilden Geiern in Namibia.“ Zusätzlich zu den ACC-Daten der Sender nahmen die Forschenden Daten zum Verhalten der Tiere auf – im Tierpark durch Videoaufnahmen und im Freiland unter anderem durch Beobachtung der Tiere nach der Besenderung. „Wir erhielten auf diese Weise rund 15.000 Paare von ACC-Signaturen und verifiziertem Verhalten der Geier, unter anderem aktiver Flug, Gleitflug, Fressen und Stehen. Damit konnten wir eine sogenannte Support Vector Machine, einen KI-Algorithmus, trainieren, der mit hoher Zuverlässigkeit ACC-Daten bestimmtem Verhalten zuordnet“, erklärt Rast.

In einem zweiten Schritt kombinierten die Forschenden diese so gewonnenen Verhaltensinformationen mit den GPS-Daten der Tiersender. Mit speziellen KI-Algorithmen zum räumlichen „Clustering“ identifizierten sie Positionen, an denen sich bestimmte Verhalten häuften. Auf diese Weise erhielten sie räumlich und zeitlich fein aufgelöste Ortungen, an denen Geier gefressen hatten. „Die GAIA-Feldwissenschaftler und Kooperationspartner vor Ort konnten mehr als 500 dieser aus den Senderdaten abgeleiteten Verdachtsstellen für Kadaver überprüfen, ebenso wie mehr als 1300 Cluster anderer Verhaltensweisen ohne Kadaver“, sagt Aschenborn. Die vor Ort verifizierten Funde von Kadavern dienten schließlich als Grundlage für die Identifikation eindeutiger Signaturen für Fress-Stellen der Geier im letzten KI-Trainingsdatensatz der Forschenden – dieser Algorithmus zeigt also mit hoher Präzision Orte an, an denen höchstwahrscheinlich ein Tier gestorben ist und ein Kadaver liegt. „Wir konnten sehen, dass die Vorhersage für Kadaver mit 92 Prozent Trefferquote sehr genau ist und ein System, welches die Geier, Tiersender und KI verbindet, sehr gut zur großräumigen ‚Überwachung‘ von tierischen Todesfällen eingesetzt werden kann“, so Aschenborn.

Diese KI-basierte Verhaltensklassifikation und Kadavererkennung ist ein zentraler Baustein für das GAIA-Frühwarnsystem für kritische Veränderungen oder Vorfälle in der Umwelt. „Bislang erfolgt dieser methodische Schritt im GAIA-I³-Rechenzentrum im Leibniz-IZW in Berlin“, sagt Melzheimer. „In der in unserem Konsortium entwickelten neuen Generation von Tiersendern werden KI- Analysen direkt auf dem Tiersender implementiert. Damit entsteht die verlässliche Information darüber, ob und wo ein Tierkadaver liegt, unmittelbar und ohne Zeitverlust am Tier.“ Der Transfer aller GPS- und ACC-Rohdaten ist dann nicht mehr erforderlich, sodass auch Kommunikationsverbindungen mit deutlich niedrigerer Bandbreite genügen, um relevante Informationen zu übermitteln. Dies ermöglicht es, statt terrestrischem Mobilfunk eine Satellitenverbindung zu verwenden, die komplett unabhängig von lokaler Infrastruktur eine Abdeckung auch in entlegenen Wildnisregionen garantiert. Auch dort könnten dann kritische Veränderungen oder Vorfälle in der Umwelt – wie Krankheitsausbrüche, Dürren oder illegale Tötungen von Wildtieren – ohne Zeitverzögerung erkannt und übermittelt werden.

In den letzten Jahrzehnten sind die Bestände vieler Geierarten stark zurückgegangen, sie sind nun akut vom Aussterben bedroht. Die Hauptursachen dafür sind der Verlust von Lebensraum und Nahrung in vom Menschen geprägten Landschaften sowie eine hohe Anzahl direkter oder indirekter Vergiftungen. Der Bestand des Weißrückengeiers ist beispielsweise innerhalb von nur drei Generationen um etwa 90 Prozent zurückgegangen – das entspricht einem durchschnittlichen Rückgang von 4 Prozent pro Jahr. „Aufgrund ihrer ökologischen Bedeutung und ihres raschen Rückgangs ist es notwendig, unser Wissen über und Verständnis von Geiern deutlich zu verbessern, um sie besser schützen zu können“, sagt Aschenborn. „Unsere Forschungen mit Hilfe KI-basierter Analysemethoden geben uns nicht nur neuartige Einblicke in Ökosysteme, sie werden auch unser Wissen darüber erweitern, wie Geier kommunizieren, interagieren und kooperieren, nach Nahrung suchen, Jungen ausbrüten und aufziehen und wie sie Wissen von einer Generation an die nächste weitergeben.“ GAIA stattete bislang mehr als 130 Geier in unterschiedlichen Teilen Afrikas mit Sendern aus, der Großteil in Namibia. Die Forschenden analysierten daraus bislang mehr als 95 Millionen GPS-Datenpunkte und 13 Milliarden ACC-Datensätze.
Rast W, Portas R, Shatumbu GI, Berger A, Cloete C, Curk T, Götz T, Aschenborn OHK, Melzheimer J (2024): Death detector: Using vultures as sentinels to detect carcasses by combining bio-logging and machine learning. Journal of Applied Ecology. DOI: 10.1111/1365-2664.14810
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  • Illustration des Prozesses der KI-Entwicklung (Grafik: Clara C. Anders)
  • GAIA-Wissenschaftler und Tierpfleger des Tierparks Berlin mit einem Geier in der Voliere des Tierparks. Der Geier erhielt einen Sender zur Sammlung von Daten für die KI-Entwicklung. (Foto: Jan Zwilling)
  • GAIA-Wissenschaftler Wanja Rast installiert eine Videokamera in der Geier-Voliere des Tierparks Berlin, mit der Referenzdaten von Verhaltensweisen und Bewegungen der Tiere gesammelt werden. (Foto: Jan Zwilling)
  • Die Sicht eines Geiers in seinen Lebensraum (Komposit-Bild, Fotos von Jon A. Juarez)
  • Auswertung und Interpretation von Daten und Entwicklung von KI-Modellen im GAIA-I3-Lab im Leibniz-IZW (Foto: Jon A. Juarez)
  • Weißrückengeier und ein Schakal an einem Tierkadaver (Foto: Jan Zwilling)
  • Geier im Anflug auf einen Kadaver in Uganda (Foto: Jon A. Juarez)
  • Weißrückengeier in der Voliere des Tierpark Berlin (Foto: Jan Zwilling)
Regions: Europe, Germany, Africa, Namibia
Keywords: Science, Environment - science, Life Sciences

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