Heidelberger Forscher kartieren verantwortliche Gehirnregionen und gewinnen neue Erkenntnisse zu ihrer embryonalen und evolutionären Entwicklung
Die Gehirne von Vögeln haben sich im Laufe der Evolution anders entwickelt als die Hirnstrukturen von Säugetieren. Wie bei einigen Vogeltierarten dennoch ähnliche kognitive Funktionen entstehen konnten, hat jetzt ein Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Henrik Kaessmann am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg untersucht. Analysen der Zusammensetzung sowie der embryonalen und evolutionären Entwicklung des Palliums – der bei Vögeln und Säugetieren maßgeblichen Hirnregion für Fähigkeiten wie Gedächtnis, Lernen oder Denken – zeigen, dass einige Gehirnzelltypen über hunderte Millionen Jahre nahezu unverändert blieben, während andere sich deutlich weiterentwickelten.
Die Gehirne von Vögeln unterscheiden sich in grundlegenden Aspekten ihres Aufbaus von Reptilien- und insbesondere von Säugetiergehirnen. Trotzdem verfügen einige Vogelarten über ähnlich komplexe kognitive Fähigkeiten wie etwa Menschenaffen. Dabei spielt das sogenannte Pallium eine entscheidende Rolle. Dieser im Vorderhirn angesiedelte Bereich besteht beim Menschen hauptsächlich aus der gefalteten Großhirnrinde, ist jedoch in Vögeln ganz anders aufgebaut, obwohl er ähnliche Funktionen erfüllt. Die zelluläre Zusammensetzung und Evolution des Palliums hat das Team um Prof. Kaessmann an Hühnern untersucht. Dazu kartierten die Biologen mithilfe hochmoderner Einzelzelltechnologien die in dieser Hirnstruktur vertretenen Zelltypen und verglichen die Informationen mit ähnlichen Datensätzen von Mäusen und Reptilien.
Die Analysen zeigen, dass sich trotz der unterschiedlichen Gehirnarchitekturen über alle untersuchten Arten hinweg jene Nervenzellen besonders stark ähneln, die die Gehirnaktivität regulieren. Anders die für die Signalübertragung verantwortlichen Neuronen, deren Evolution dynamischer verlaufen ist, wie Dr. Bastienne Zaremba erläutert. Während sich einige von ihnen kaum veränderten, etwa in dem für die Lernfähigkeit und Gedächtnisleistung wichtigen Hippocampus, entwickelten sich andere stark auseinander oder organisierten sich anatomisch neu. Unerwartet für die Wissenschaftler: „Bestimmte erregende Neuronen besitzen artenübergreifend wahrscheinlich einen gemeinsamen evolutionären Ursprung. Dies betrifft die Nervenzellen in tieferen Schichten des Neokortex, der bei Säugetieren für höhere kognitive Fähigkeiten verantwortlich ist, und die Neuronen im sogenannten Mesopallium der Vögel. Diese Erkenntnis stellt bestehende Annahmen zur Evolution dieser Gehirnregionen infrage“, so die Wissenschaftlerin, die Mitglied in Prof. Kaessmanns Forschungsgruppe „Evolutionary Genomics“ ist.
Auch zum Hyperpallium, einer ausschließlich bei Vögeln vorkommenden Struktur innerhalb des Palliums, liefern die Forschungsarbeiten neue Erkenntnisse. Bislang ging die Wissenschaft davon aus, dass das Hyperpallium vergleichbar ist mit dem Neokortex von Säugetieren. Wie das Heidelberger Forschungsteam nun zeigen konnte, ähneln sich zwar einige Neuronen; andere unterscheiden sich jedoch grundlegend. „Unsere Ergebnisse widerlegen frühere Theorien, die davon ausgegangen sind, dass sich bestimmte Hirnregionen bei Vögeln und Säugetieren aufgrund ihrer Lage direkt entsprechen“, erklärt Dr. Zaremba. Stattdessen offenbart sich nach den Worten der Wissenschaftlerin ein wesentlich komplexeres evolutionäres Muster aus Erhaltung, Divergenz und Konvergenz. So sind einige Merkmale bemerkenswert ähnlich geblieben, andere haben sich dramatisch verändert und wieder andere sind sich im Laufe der Zeit immer ähnlicher geworden.
Die Forscherinnen und Forscher fanden zudem heraus, dass bestimmte Nervenzellen in zwei weit voneinander entfernten Regionen des Vogelgehirns große Ähnlichkeit aufweisen, obwohl sie jeweils einen anderen Ursprung im Embryo haben. „Die Vorstellung, dass die Funktion eines Neurons grundsätzlich von seiner Position im embryonalen Gehirn bestimmt wird, müssen wir damit überdenken“, betont Prof. Kaessmann. „Um ein differenzierteres Verständnis der Gehirnevolution und der Entwicklung komplexer kognitiver Fähigkeiten bei Vögeln und Säugetieren zu gewinnen, sind molekulare Daten, die auch embryonale Entwicklungsprozesse berücksichtigen, von besonderer Bedeutung“, so der Heidelberger Evolutionsbiologe.
Die Forschungsarbeiten wurden in enger Zusammenarbeit mit Dr. Fernando García-Moreno von der Universität des Baskenlandes (Spanien) durchgeführt. Beteiligt waren auch Forscher aus Schweden. Der Europäische Forschungsrat, das spanische Wissenschaftsministerium, die Regierung der Autonomen Gemeinschaft Baskenland und der Schwedische Forschungsrat haben Fördermittel zur Verfügung gestellt. Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht.